Verena Grünefeld: Dokumentarfilm populär

Einzelrezension
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Rezensiert von Tereza Smid

Einzelrezension
Wie hat es Michael Moore zum bisher erfolgreichsten Dokumentarfilmer geschafft? Warum locken seine Filme ein Millionenpublikum ins Kino und bieten gleichzeitig Kritikern unzählige Angriffsflächen? Diesen Fragen geht die Amerikanistin Verena Grünefeld in ihrer Dissertation mit spürbarer Begeisterung nach. Im Zentrum steht die detaillierte Analyse von Moores vier erfolgreichsten Filmen Roger and Me, Bowling for Columbine, Fahrenheit 9/11 und Sicko, die für die Autorin am aktuellen Ende der Entwicklung des Dokumentarfilm-Genres stehen. Im ersten historisch-theoretischen Teil versucht Grünefeld ebendiese Entwicklung aufzuzeigen, indem sie sich die auf die Höhepunkte der Dokumentarfilmgeschichte stützt, um diese später als Vergleichsfolie für Moores Filme zu verwenden.

Allerdings überzeugen die Gegenüberstellungen mit Dokumentarfilmformen der 1940er bis 1960er Jahre nicht. Zudem geht die Autorin von einem historisch gewachsenen und homogenen “Genre” aus, das sich kontinuierlich auf das Ziel hin entwickelt, die “Mittel zur Darstellung der Wirklichkeit” auf ästhetischer und argumentativer Ebene zu perfektionieren (309). Eine Annahme, die sich in den inkonsistenten theoretischen Überlegungen spiegelt und der Komplexität des Realitätsbezugs nicht gerecht wird. Sowohl die Multiplikation der Subgenres seit den 1970er-Jahren und die Vermischung des Fiktionalen und Nichtfiktionalen lässt die Autorin weitgehend aus. Auch formuliert beispielsweise Heinz-B. Heller (2001) berechtigte Zweifel daran, ob man vom Dokumentarfilm als einem Genre sprechen kann.

In diesem ersten Teil vermisst man aus filmwissenschaftlicher Sicht auch die Definition des Dokumentarfilms im Allgemeinen und des untersuchten Subgenres. Damit weicht die Autorin einer schwierigen theoretischen Diskussion aus. In diesem Zusammenhang wäre eine klare Trennung der Ebenen wünschenswert gewesen, denn der Dokumentarfilm lässt sich unter dem institutionellen, sozialen, pragmatischen Gesichtspunkt und der Frage nach der Fiktionalität betrachten und definieren (vgl. Hohenberger 2000: 20f.). Die vorgenommene Abgrenzung gegenüber dem Spielfilm erfolgt außerdem immer wieder über Klischees, die das Fiktionale in erster Linie eskapistisch und als ungeeignet, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, charakterisieren. Nicht nur hier wäre der Einbezug von semiopragmatischen Theorien, z.B. von Roger Odin (1990), lohnenswert gewesen.

Im Hauptteil ihrer Untersuchung ist Grünefeld trotz gegenteiliger Ankündigung (9f.) vor allem bestrebt, den Vorwurf zu widerlegen, der “liebenswerte” (90) Star seiner eigenen Filme könne mit Unterhaltung nicht Wahrheit vermitteln. Sie tut dies mittels einer ausführlichen, aber wertenden Analyse der rhetorischen Strategien und einer ebenso umfassenden Darstellung aller vorgebrachten Kritikpunkte. Leider lässt die Autorin selbst kritische Distanz vermissen und verwendet die Analyse der Filme, um Moores Strategien zu rechtfertigen – immer wieder mit dem Hinweis auf seinen Erfolg und seine Glaubwürdigkeit. Die kritischen Stimmen als Ausdruck eines von Moore in Gang gesetzten Diskurses wären es wert gewesen, ernst genommen und kontextualisiert zu werden.

In der Einschätzung der Filme schwankt die Autorin oft zwischen Widersprüchen, wenn sie etwa auf der einen Seite behauptet, der Filmemacher setze die Ansprüche des Direct Cinema auf Objektivität noch konsequenter um (123), und seinen Filmen gleichzeitig Subjektivität, eine eindeutige politische Position und gar einseitige Wahrheitskonstruktion attestiert (307). Mit dieser latenten Widersprüchlichkeit schwächt Grünefeld insgesamt ihre Arbeit. Dies scheint an einer zu häufigen Übernahme von Kritikeraussagen und -meinungen zu liegen, denen keine klare eigene Position gegenüber steht. Filmkritiken sind hier allzu oft nicht nur Primär-, sondern Sekundärquelle.

Im dritten und letzten Teil versucht die Autorin anhand von drei erfolgreichen Filmen nachzuweisen, dass Moores Werke das Dokumentarfilmschaffen nachhaltig verändert haben. Dass dies anhand der wenigen und sehr unterschiedlichen Filme nicht überzeugend gelingen kann, überrascht nicht. Hier fehlt der Einbezug eines breiteren Kontextes, anderer, ähnlicher Subgenres, der Digitalisierung oder des Fernsehens. Stattdessen begnügt sich Grünefeld mit dem Vergleichskriterium “populärer, kritischer und finanzieller Erfolg” (238), und das Maß aller Dinge ist Michael Moore.

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Literatur:

  • Heller, Heinz-B.: Dokumentarfilm als transitorisches Genre. In: von Keitz, Ursula; Kay Hoffmann (Hrsg.): Die Einübung des dokumentarischen Blicks. Fiction Film und Non Fiction Film zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 1985-1945. Marburg [Schüren] 2001, S.15-26
  • Hohenberger, Eva (Hrsg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Berlin [Vorwerk 8] 2000 (1998, 2. Aufl.)
  • Odin, Roger: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre. In: Blümlinger, Christa (Hrsg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien [Sonderzahl] 1990, S. 125-146
Über das BuchVerena Grünefeld: Dokumentarfilm populär. Michael Moore und seine Darstellung der amerikanischen Gesellschaft. Frankfurt am Main, New York [Campus Verlag] 2009, 336 Seiten, 37,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseVerena Grünefeld: Dokumentarfilm populär. von Smid, Tereza in rezensionen:kommunikation:medien, 12. August 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/2549
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