Janette Friedrich (Hrsg.): Karl Bühlers Krise der Psychologie

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Rezensiert von Maria Paola Tenchini

Einzelrezension
Der Sprachwissenschaftler Karl Bühler hat in den vergangenen 30 Jahren eine Renaissance erfahren. Diese wird vor allem von der Übersetzung seines Hauptwerks Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934) in verschiedene Sprachen getragen, wie Achim Eschbach, Herausgeber u.a. der Bühler-Studien (1984), unterstreicht (vgl. Eschbach 2015: 9).

Anlässlich des 80. Erscheinungsjahrs der Sprachtheorie wurde 2014 in Prag von dem Prager Linguistenkreis eine Bühler-Tagung organisiert (Karl Bühler: 80 Jahre Sprachtheorie), deren Beiträge im Druck sind. Im gleichen Jahr erschien der Band Anton Marty und Karl Bühler, in dem die sprachphilosophischen Ansätze der beiden Autoren sowohl zueinander als auch zu späteren Traditionen ausführlich untersucht werden. Ebenfalls 2014 fand an der Universität Wien, am Institut Wiener Kreis in Zusammenarbeit mit der Fakultät für Psychologie, ein Internationaler Workshop zu Karl Bühler statt, in dessen Mittelpunkt die Schrift Die Krise der Psychologie (1927) stand. Der Großteil der Beiträge dieser Tagung sind im vorliegenden Band versammelt.

Bühler wurde im September 1922 als Ordinarius für Philosophie, Psychologie und Pädagogik von Dresden an die Philosophische Fakultät der Universität Wien berufen, wo er das Psychologische Institut begründete und leitete. Er war allerdings nur bis zum 23. März 1938 dort tätig, da er an diesem Tag von den Nationalsozialisten inhaftiert und nach sechs Wochen zwangspensioniert wurde – mit darauffolgendem Zutrittsverbot zu seiner Arbeitsstätte. Im Oktober 1938 emigrierte er nach Oslo und 1939 in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er sich mit seiner Frau Charlotte wieder vereinte.

Der erste und der dritte Beitrag dieses Bandes (im Themenblock “Historisches”) befassen sich mit dem ‘Ausgangs-’ und ‘Endpunkt’ von Bühlers Wiener Erfahrungen. Hans-Joachim Dahm illustriert im Detail die bürokratischen, politischen und ideologischen Phasen, die 1922 zur Neubesetzung der drei Wiener philosophischen Lehrstühle und zur Berufung Bühlers, Schlicks und Reiningers geführt haben. Neben der Darstellung des politischen und akademischen Kontextes vor und nach dem ersten Weltkrieg wird die Frage thematisiert, ob überhaupt von einer ‘österreichischen Philosophie‘ die Rede sein kann.

Komplementär beschäftigt sich Markus Stumpf mit dem Schicksal Karl und Charlotte Bühlers und deren Bibliothek. Anders als in der traditionellen Literatur nimmt der Autor an, es handle sich bei der Bibliothek und ihrem Schrifttum um mehrere Teilbestände, “denen es nachzugehen gilt“ (62). Im Aufsatz werden folglich die Wechselfälle dieser Bibliothek auf Grundlage der Ergebnisse der NS-Provenienzforschung, der Einlagerungsdokumente bei Schenker & Co., der historischen und persönlichen Ereignisse, der Privatkorrespondenz und unpublizierten Quellenmaterials näher rekonstruiert.

Im dritten Beitrag des ersten Teils untersucht Maria Czwick die unter der Leitung von Karl Bühler und Käthe Wolf am Psychologischen Institut durchgeführten Forschungsarbeiten zum Film. In diesen ging es insbesondere um die Beziehung zwischen Verfilmungstechniken und Überlegungen zum menschlichen Ausdruck. Bühlers Überlegungen zur filmischen Deixis, zum Umfeld und zur Bildhaftigkeit des Films verweisen unmissverständlich auf seine kongeniale Sprachauffassung.

Dass Bühlers wissenschaftliche Produktion eine glückliche Verflechtung von psychologischen und sprachwissenschaftlichen Instanzen in interdisziplinärer Perspektive darstellt, wird in den Beiträgen des zweiten und dritten Teils des Bandes deutlich. Guillaume Fréchette eröffnet den zweiten Themenblock “Positionsbestimmungen”. Er analysiert die Verbindung zwischen Bühler und der Brentanoschule (Brentano selbst, Marty, Meinong und Stumpf). Ausgehend hauptsächlich von den Intentionalitätsmodellen Brentanos, die von Bühler direkt oder indirekt rezipiert wurden, markiert Fréchette Unterschiede und Gemeinsamkeiten der zwei Wissenschaftler mit dem Ziel, Bühlers Axiomatik “als ein Produkt des Forschungsprogramms der deskriptiven Psychologie der Schule Brentanos“ zu rekonstruieren (112), eingedenk der Tatsache, dass in Brentanos Schule Überlegungen zum sinnvollen Benehmen, so wichtig für Bühler, kaum zu finden sind.

Martin Wieser widmet sich dem Begriff des Mediums, um “einen historischen Streifzug von Graz [Heider] über Wien [Bühler] nach Berkeley [Brunswik]“ (117) zu machen. Die Integration der Voraussetzungen des logischen Empirismus und des Neobehaviorismus in Brunswiks “Linse“ und die darauffolgende Re-Interpretation von Heiders Linse und Bühlers Medienbegriff, hat, so der Autor, zuerst zur Verengung, dann zur Auflösung des Medienbegriffs geführt. Im Zentrum der Analyse steht Bühlers Begriff der Sprache als Kontaktmedium bzw. Zwischenmedium, die einmal mehr zeigt, dass Bühler in der Krise wesentliche Grundrisse seiner späteren Sprachtheorie und Axiomatik der Sprachwissenschaft vorwegnimmt.

Das Essay von Janette Friedrich ist dem Interesse Bühlers an der biologischen Psychologie und der Verhaltensforschung gewidmet, einer Thematik, die, wie die Autorin unterstreicht, bisher in der Bühlers Rezeption noch wenig beachtet worden ist. Indem sie im Einzelnen auf einige Schriften Bühlers eingeht, rekonstruiert und kommentiert Friedrich die Phasen des von ihm entwickelten Modellgedankens und seine Diskussionen über das Verhalten des menschlichen und tierischen Lebewesens als zweckmäßiges oder sinnvolles. Dabei zeigt sie, wie in der Krise solche Überlegungen durch die Diskussion des Steuerungsbegriffs ergänzt werden, “um die konstitutive Rolle des Semantischen im Gemeinschaftsleben […] diskutieren“ zu können (149).

Helmut Leder untersucht die Rezeption und Aktualität von Bühlers Forschungen zur Gestaltwahrnehmung anhand der von ihm 1913 veröffentlichten Schrift Die Gestaltwahrnehmungen. Leder stellt insbesondere die Korrelationen zwischen Bühlers Komponenten des ästhetischen Urteils und des affektiven ästhetischen Genusses und den Ansätzen der ‘gegenwärtigen‘ empirischen Ästhetik heraus. Er erklärt, wie die Hoffnung Bühlers, “den Grundstein für eine zukünftige Ästhetik zu stellen“, sich nicht erfüllt habe, wahrscheinlich nicht zuletzt wegen der “mangelnden Übersetzung“ seiner Gestaltwahrnehmungen ins Englische (176).

Im letzten Themenblock des Bandes (“Essays”) steht die Aktualität von Bühler als Semiotiker im Vordergrund – und nicht so sehr als Begründer einer Psychologie der Sprache. Achim Eschbach erläutert, wie der Leitfaden der gesamten Bühlerschen Forschungsarbeit in seiner Idee einer “allgemeinen Sematologie“ (Zeichenlehre) zu suchen sei. Thomas Slunecko und Gerhard Benetka verfolgen Bühlers Frage nach der Stellung der Psychologie innerhalb der (Natur- und Geistes-) Wissenschaften, ausgehend von den drei Komponenten der psychologischen Analyse: den Erlebnissen, dem sinnvollen Benehmen der Lebewesen und ihren Korrelationen mit den Gebilden des Objektiven Geistes. Die Lösung findet Bühler in der Auffassung einer logisch schlüssigen Axiomatik, die der seines Organon-Modells der Sprache entspricht. Darin liege die Stärke, aber auch die Schwäche des Bühlers psychologischen Vorschlags, wie Slunecko und Benetka folgern: “Was dabei [aus der Grundlegung der Psychologie über die Theorie der Sprache – und vice versa] aber herauskommt, ist eine letztlich völlig a-psychologische Behandlung der Sprache und eine der Alltagspraxis entfremdete Psychologie“ (198).

Dieser knappe Überblick hat auf die Dichte der einzelnen Artikel und auf die Komplexität der behandelten Thematiken nur kurz hinweisen können. Aber er sollte zeigen, dass dieser Band ein wichtiger Beitrag zur Exegese der Schriften eines Wissenschaftlers bildet, der mit seinen inhaltlich umfassenden und tiefgreifenden Untersuchungen weiterhin ‘verwundert‘ und bewegt. Die im Buch eingehend dokumentierten und detailliert ausgeführten Themen werden sicherlich zum weiteren Nachdenken und Forschen anregen.

Literatur:

  • Cesalli, L.; Friedrich, J. (Hrsg.): Anton Marty & Karl Bühler. Between Mind and Language – Zwischen Denken und Sprache – Entre pensée et langage. Basel [Schwabe] 2014.
  • Eschbach, A.: Bühler. Sprache und Denken. Köln [Herbert von Halem] 2015.

Links:

Über das BuchJanette Friedrich (Hrsg.): Karl Bühlers Krise der Psychologie. Positionen, Bezüge und Kontroversen im Wien der 1920/30er Jahre. Reihe: Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, Bd. 26. Basel [Springer International Publishing] 2017, 204 Seiten, 89,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseJanette Friedrich (Hrsg.): Karl Bühlers Krise der Psychologie. von Tenchini, Maria Paola in rezensionen:kommunikation:medien, 30. Mai 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21225
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