Sarah Geber: Wie Meinungsführer Meinung kommunizieren

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Rezensiert von André Haller

Einzelrezension
Meinungsführertheorien gehören fest zum Lehrkanon der Kommunikationswissenschaft. Studien zu diesem Forschungsgebiet werden seit den Anfängen der Disziplin (exemplarisch sei an die “People’s Choice“-Studie von Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1944 erinnert) bis heute durchgeführt. Sarah Geber beschäftigt sich in ihrer Veröffentlichung mit den politischen Meinungsführern, genauer mit der Frage, wie der interpersonale Kommunikationsprozess zwischen Meinungsführern und -folgern in alltäglichen Gesprächssituationen genau verläuft.

Die Autorin führt zu diesem Zweck das Konzept der “relativen Meinungsführerschaft“ ein – eine Rolle in Alltagsgesprächen mit dem Ziel politisch zu beeinflussen (51). Geber bezieht dabei zwei grundlegende theoretische Standpunkte ein: Erstens, eine dyadisch-interaktionale Perspektive und zweitens, ein relational-kommunikatives Meinungsführerverständnis. Der erstgenannte Ansatz betont die dyadische Struktur politischer Alltagsgespräche und den dynamischen Aspekt dieser Gesprächsakte. Das relational-kommunikative Verständnis bezieht darüber hinausgehend ein wesentliches Merkmal zwischenmenschlicher Kommunikation ein – die Tatsache, dass die Rolle des Meinungsführers und -folgers in Relation zu weiteren Umständen des Gesprächs zu sehen und daher wandelbar ist. Bestehende Ansätze zu Meinungsführerschaft, politischen Alltagsgesprächen und persönlicher Einflussnahme führt Geber schließlich zu einem relational-kommunikativen Meinungsführerschafts-Modell (vgl. 103) zusammen.

Der Aufbau des Buchs ist gut nachvollziehbar und argumentativ sinnvoll: Nach einem umfangreichen Überblick über die Anfänge der Meinungsführerforschung und aktuelle Ansätzen entwirft die Autorin ihr theoretisches Verständnis des Meinungsführers in Kapitel 2. Das darauffolgende Kapitel 3 spezifiziert das Meinungsführungskonzept genauer und stellt Arbeiten zu politischen Gesprächen vor. In Kapitel 4 werden kognitions- und sozialpsychologische sowie linguistische Ansätze der Erforschung des persönlichen Einflusses dargestellt, bevor in Kapitel 5 die Hypothesen deduktiv aus der Literatur erarbeitet werden. Dem methodischen Überblick (Kapitel 6) schließen sich die Ergebnispräsentation (Kapitel 7), eine Interpretation (Kapitel 8) und Diskussion (Kapitel 9) an. Das abschließende Kapitel 10 gibt einen Ausblick auf weitergehende Forschungsfragen.

Konkret untersucht die Autorin die Ziele des relativen Meinungsführers (vgl. 186ff.), den eigentlichen Kommunikationsprozess, der sich in der Praxis in eine Inhalts- und Beziehungsebene untergliedern lässt (vgl. 196ff.), die Wirkungen dieses Prozesses (vgl. 215ff.) und den Zusammenhang der drei Bestandteile (232). Die Autorin nutzt für ihre Studie eine Methodenkombination, bestehend aus einer onlinebasierten Vorher-Befragung, Beobachtungen von politischen Gesprächen und einer Paper-und-Pencil-Befragung im Nachgang an die Gespräche.

Es ist ein zentrales Verdienst der Arbeit, dass Beobachtungen als zentrales Erhebungsinstrument genutzt werden, um der Praxis politischer Alltagsgespräche gerecht zu werden. Die Vorabbefragung diente der Erhebung der Meinungsführerdispositionen und fand zwei Wochen vor den Beobachtungen statt. Die untersuchten Dyaden wurden auf dieser Basis in Meinungsführer und Meinungsfolger differenziert. Die nahtlos an die Beobachtung anschließenden Erhebungen wurden zur Messung der “sich direkt auf das Gespräch beziehenden Dimensionen, wie die Ziele und Wirkungen“ (135) genutzt. Insgesamt führte Geber mit 78 Dyaden Beobachtungen durch, die im Schnitt 34 Jahre alt waren.

Kritisch zu bewerten ist, dass die Gesprächspartner politisch sehr gut gebildet waren und damit nicht zwingend mit dem Bevölkerungsschnitt vergleichbar sind – ein Kritikpunkt, den die Autorin jedoch auch selbst anführt. Als Gesprächsthema wurde die Flüchtlingsthematik (vgl. 140) gewählt, die sich aufgrund der Aktualität sehr gut für flüssige Gespräche eignet. Das Setting der Beobachtung wird transparent dargestellt und entspricht sozialwissenschaftlichen Standards (vgl. 135): Vor Gesprächsbeginn wurde den Teilnehmern ein zweiminütiger Fernsehbeitrag zum Thema gezeigt, der das rund zehn minütige Gespräch einleitete. Die Laboreinrichtung wurde dabei so gestaltet, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer “Wohnzimmeratmosphäre“ (139) mit Fernseher, Sofa, Sessel und Tisch unterhalten konnten.

Die zentralen Befunde der Arbeit lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es konnte empirisch gezeigt werden, dass der soziale Aspekt die Gespräche dominierte. Die Wahrung des Gesichts der jeweiligen Gesprächspartner sowie das Streben nach Zustimmung waren wesentliche Ziele der Probanden. Es wurden außerdem die inhaltlichen Annahmen zum Gesprächsverlauf bestätigt: Nachgewiesen wurden argumentativ gestützte Kommunikationsakte, die beim Meinungsführer umso mehr auftraten, je größer die Asymmetrie zwischen Meinungsführer und -folger war (vgl. 204). Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Gesprächsrollen in der Praxissituation bestätigt wurden – der relative Meinungsführer wurde also im Diskussionsprozess in seiner Rolle als Meinungsführer wahrgenommen (vgl. 263). Hinsichtlich der Wirkung wurden keine starken Persuasionseffekte nachgewiesen (vgl. 230, 263). Meinungsführerschaft kann demnach als nahezu klandestines Phänomen begriffen werden, dass jedoch gerade deshalb “zu einem integralen Bestandteil politischer Alltagskommunikation“ (264) wird.

Gebers Arbeit schließt eine Lücke in der Meinungsführerforschung und bietet mit dem Konzept der relativen Meinungsführerschaft zudem theoretisches Rüstzeug für weiterführende Untersuchungen: Die teilweise hohe Reichweite von ‘Influencern’ die auf Social Network Sites PR für Produkte und Dienstleistungen betreiben, kann von Kommunikationsforschern nicht außer Acht gelassen werden. Es ist zu erwarten, dass diese ‘neuen Meinungsführer’ auch politisches Potential entfalten und dadurch zu Forschungsobjekten der politischen Kommunikationsforschung werden. Frühere Arbeiten können mit Gebers Ansatz ergänzt werden, zudem bietet ihre Arbeit hilfreiche theoretische Stützen für die Folgeforschung an. Insbesondere die methodische Umsetzung des dyadisch-interaktionalen Kommunikationsverständnisses (kritisch gewürdigt ab Seite 285) erscheint für weitere empirische Studien nutzbar.

Literatur:

  • Lazarsfeld, Paul F., Berelson, Bernard & Gaudet, Hazel: The People’s Choice: How the Voter makes up his Mind in a Presidential Campaign. New York [Duell, Sloan & Pearce] 1944.

 Links:

Über das BuchSarah Geber: Wie Meinungsführer Meinung kommunizieren. Meinungsführerschaft in der politischen Alltagskommunikation. Köln [Herbert von Halem] 2017, 344 Seiten, 34,- Euro.Empfohlene ZitierweiseSarah Geber: Wie Meinungsführer Meinung kommunizieren. von Haller, André in rezensionen:kommunikation:medien, 19. Februar 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20999
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