Alice Fleischmann: Frauenfiguren des zeitgenössischen Mainstreamfilms

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Rezensiert von Martina Thiele

Einzelrezension
Laura Mulveys Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema von 1975 zählt zu den kanonischen Texten der Gender Media Studies. Mulvey hat darin mit dem Begriff des ,male gaze‘ ein ,männliches Blickregime‘ bezeichnet. Es sei insbesondere im klassischen Hollywoodkino und in der Werbung vorherrschend und mache Frauen zu sexualisierten Objekten. In den vier Jahrzehnten seit seinem Erscheinen hat Mulveys Essay viel Zustimmung erhalten und ebenso zu Nachfragen, Ergänzungen (auch durch Mulvey selbst) sowie grundlegender Kritik geführt.

Alice Fleischmann wagt sich nun in ihrer Dissertation mit dem Titel Frauenfiguren des zeitgenössischen Mainstreamfilms an eine „Neuevaluation von Laura Mulveys Essay“ (S. 1). Wie sie selbst und ihr Doktorvater an der Universität Leipzig betonen, war dies ein Unterfangen mit hohem theoretischem wie empirischem Anspruch. Erstmals, so die Autorin, würde Mulveys „Modell“ auf „seine Aktualität“ überprüft (S. 2).

Dazu formuliert sie einleitend drei ,Hypothesen‘ zum modernen Mainstreamfilm, bei denen es sich aber weniger um Hypothesen im engeren empirischen Sinn als um Aussagen handelt. Fleischmann geht davon aus, dass auch die im neuen Jahrtausend produzierten und viel rezipierten Filme Geschlechterstereotype vermitteln, die die herrschende Geschlechterordnung stützen. Mulveys „Modell“ sei daher „unter Berücksichtigung einiger Modifikationen weiterhin aktuell und anwendbar“, stellt die Autorin daher schon zu Beginn ihrer Studie (S. 5) fest. Dieser Befund ist sicher richtig. Weniger zutreffend aber ist die Rede vom „Modell“. Auch die anderen Begriffe, die Fleischmann verwendet, „Ansatz“, „Konzept“, gar „Theorie“, unterstellen, dass es um mehr geht als einen vieldiskutierten Aufsatz, der Geschlechterrepräsentationen im Spielfilm psychoanalytisch deutet. Mulvey „das Fehlen eines empirischen Nachweises“ (S. 149) vorzuwerfen, ist somit kaum gerechtfertigt.

Einen solchen Nachweis nun zu erbringen, lautet eines der erklärten Ziele der Studie von Alice Fleischmann. Als Untertitel hat sie ein Zitat von Martin Scorsese gewählt, der Kino als „a matter of what’s in the frame and what’s out“ definiert hat. Im Zusammenhang mit Frauen kann es dabei nicht nur um Quantitäten gehen, sondern auch um „die Art und Weise, wie sie repräsentiert sind, ebenso wie die Defizite dieser Darstellung“ (S. IX). Über jene „Ambivalenzen der Sichtbarkeit“ (Schaffer 2008) und damit auch über Fragen der Macht lohnt es sich tatsächlich nachzudenken.

Der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Visual Pleasure and Narrative Cinema geht die Autorin im zweiten Kapitel nach. Hier tauchen auch Hinweise auf, wie sich die Geschlechterforschung theoretisch weiterentwickelt und ausdifferenziert hat – speziell die feministische Filmtheorie. Zentral ist für Fleischmann das u.a. von Candace West und Don Zimmermann (1987) formulierte Konzept des „doing gender“. In Anlehnung an Regine Gildemeister (2010: 141) fragt es weniger nach Unterschieden als nach „Prozessen der Unterscheidung“ und damit nach (De-)konstruktionen von Geschlecht. Diese theoretische Positionierung spiegelt sich jedoch nicht im Titel der Studie, der „Frauenfiguren“ in den Mittelpunkt stellt, und auch nur bedingt in der methodischen Anlage.

Ausführlich widmet sich die Autorin im dritten Kapitel Theoretische und methodische Grundlage den Geschlechterstereotypen und -rollen sowie der Einteilung ihres „Untersuchungsgegenstands Mainstreamfilm“ (S. 50) in Genres. Deutlich wird der Zusammenhang zwischen Genre und Gender. So gilt etwa der Actionfilm als männliches Genre, das Melodram hingegen als weibliches.

Methodisch bietet Fleischmann einiges. Sie kombiniert hermeneutische Verfahren der Textinterpretation mit sozialwissenschaftlichen wie der quantitativen Inhaltsanalyse und der Online-Befragung. Eine wichtige Rolle für die Beurteilung von Geschlechterverhältnissen in Spielfilmen spielt zudem der so genannte Bechdel-Test, der Stereotype weiblicher Filmfiguren beurteilt. Er besteht aus drei Fragen:

  1. Gibt es mindestens zwei Frauenrollen?
  2. Sprechen die Frauen miteinander?
  3. Unterhalten sie sich dabei über etwas anderes als einen Mann?

Fleischmann wendet diesen Test auf 165 Kassenschlager aus den Jahren 2000 bis 2011 an. Bestimmt ist ihre Filmauswahl durch Zuschauerzahlen und Einspielergebnisse, zudem durch die Berücksichtigung verschiedener Genres (vgl. S. 165). Überwiegend handelt es sich um US-amerikanische Produktionen. 42 % der Filme bestehen den Bechdel-Test, mehrheitlich aber kommen in den meisten Filmen keine Frauen vor, die über etwas anderes als einen Mann sprechen. Auch die weiteren Ergebnisse zu Geschlechterverhältnissen, Figurenkonstellationen und Stereotypen bestätigen gravierende Unterschiede. Die Autorin identifiziert zehn „weibliche Rollenbilder im Blockbuster“ (S. 336) durch die genauere Analyse von 51 kommerziell erfolgreichen Filmen. „Strong female characters“ sind selten. Das gilt ebenso für Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen: Sie sind zu gerade einmal 4,8 % bzw. 7,3 % an den kommerziell erfolgreichsten Produktionen des neuen Jahrtausends beteiligt.

Der Analyse ausgewählter Filme folgt noch eine Onlinebefragung von 509 Personen. Erhoben wurden neben soziodemografischen Daten, Aussagen zum Filmkonsum, zur Filmauswahl, zur Identifikation mit den filmischen Charakteren, sowie zu Klischees und Stereotypen. Ergebnisse der Befragung deuten auch auf nicht erfüllte Publikumswünsche hin, was die Autorin zu der Frage führt: „Wer formt den Mainstream?“ (S. 431). Fleischmann verweist hier zwar auf Stuart Halls Encoding-Decoding Modell (S. 439) und die Option einer widerständigen Lesart. Dennoch macht ihre Studie deutlich, wie entscheidend das Marktangebot ist. Solange es sich für die Kulturindustrie rechnet, an traditionellen und tendenziell sexistischen Rollenbildern festzuhalten, wird sich wenig ändern. Diese ideologiekritische Sicht blitzt zuweilen auf in Fleischmanns 500 Seiten umfassenden Auseinandersetzung mit Geschlechterrepräsentationen im Film. Wenngleich die anfänglichen Hypothesen ahnen lassen, dass ihre Verifizierung wahrscheinlicher ist als ihre Falsifizierung, dass also Mulveys Kritik an dem, was uns zu sehen gegeben wird, weiterhin berechtigt ist, braucht es aktuelle Studien wie die von Alice Fleischmann. Sie belegen, wie wenig sich trotz aller theoretischen Weiterentwicklungen und empirischen Möglichkeiten praktisch ändert.

Literatur:

  • Gildemeister, Regine: Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung. In: Becker, Ruth; Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie. 3. Auflage. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2010, S. 137-145.
  • Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen, 3, 1975, S. 6-18.
  • Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino. Aus dem Englischen von Karola Gramann. In: Weissberg, Liliane (Hrsg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt/M. [Fischer] 1994, S. 48-65.
  • Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld [transcript] 2008.
  • West, Candace; Don Zimmermann: Doing Gender. In: Gender & Society, 2, 1987, S. 125-151.

Links:

Über das BuchAlice Fleischmann: Frauenfiguren des zeitgenössischen Mainstreamfilms. A Matter of What's In the Frame and What's Out. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2016, 570 Seiten, 69,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseAlice Fleischmann: Frauenfiguren des zeitgenössischen Mainstreamfilms. von Thiele, Martina in rezensionen:kommunikation:medien, 2. Februar 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19838
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