Ioana Crăciun: Die Dekonstruktion des Bürgerlichen im Stummfilm der Weimarer Republik

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Rezensiert von Michael Wedel

IoanaCraciun_DekonstruktiondesBuegerlichenEinzelrezension
Seit Siegfried Kracauer in seiner erstmals 1947 auf Englisch erschienenen „psychologischen Geschichte des deutschen Films“ das Kino der Weimarer Republik als Ausdruck einer tiefgreifenden Identitätskrise des Bürgertums interpretiert hat, sind an dessen Beispielen immer wieder die Zeichen einer nachhaltigen sozialen und kulturellen Verunsicherung entziffert worden. Ioana Crăciuns Arbeit reiht sich in diese Tradition ein. Im Anschluss an Kracauer lautet ihre Ausgangsthese, „dass in vielen Filmwerken der Zwanziger Jahre das Bürgerliche einer systematischen Dekonstruktion unterzogen wurde mit dem Zweck, die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem traditionellen Kulturbegriff zu hinterfragen“ (20). Vorausgeschickt wird den Fallstudien, die unterschiedliche Dimensionen dieser Dekonstruktion anvisieren, das Eingeständnis eines exemplarischen Vorgehens, das sich auf Filmbeispiele bezieht, die schon von Kracauer kanonisiert wurden. Die Kapitel folgen dabei keiner Chronologie, sondern sind thematisch organisiert und zielen in der Zusammenschau der Perspektiven auf den Effekt einer Komplementarität, die „eine differenzierte kulturgeschichtliche Diagnose“ (22) ermöglichen soll.

Das erste Kapitel streicht anhand von G.W. Pabsts Filmen Die freudlose Gasse (1924) und Geheimnisse einer Seele (1926) sowie Joe Mays Asphalt (1928) die psychopathologischen Züge des modernen Großstadtlebens heraus. Das Grundmuster wird zunächst an Mays Kriminalfilm hervorgehoben, der im Berlin der 1920er Jahre angesiedelt ist: Hinter den dynamisch ins Bild gerückten Symbolen fortgeschrittener Urbanisierung sieht Crăciun die „Gewalt bürgerlicher Prinzipien und Konventionen“ am Werk, der „die menschliche Natur zum Opfer fällt“ (28). Vor diesem Hintergrund lässt sich Asphalt als ein Initiationsdrama lesen, das die Gesellschaftsordnung untergräbt: Ausgerechnet einer Kriminellen kommt es zu, einem jungen Polizisten die Praxis und Bedeutung individueller Selbstverwirklichung vor Augen zu führen. Demgegenüber wird in Die freudlose Gasse zwar der inflationsbedingte wirtschaftliche Aufstieg einzelner Wiener Kleinbürger als moralische Verfallsgeschichte dargestellt und in Geheimnisse einer Seele die Erschütterung männlicher Vorherrschaft im Geschlechterverhältnis psychoanalytisch aufgeschlüsselt und tricktechnisch aufwändig inszeniert. Nach der Lesart Crăciuns bestätigen beide Filme jedoch das phallokratische Prinzip, indem die Macht der diskursiven Zuschreibung moralischer Wertigkeit bzw. sexualpathologischen Verhaltens weiterhin männlich definiert bleibt. So lautet der Befund dieses Kapitels: Während die Dystopie der Großstadt in Asphalt Katalysator für eine Umkehr der Geschlechterverhältnisse ist, bildet sie beim vermeintlich fortschrittlicheren Pabst die diskursive Folie zur Restauration eines patriarchalen Gesellschaftsmodells.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit Darstellungen männlicher Homosexualität in Stummfilmen der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Den meisten Platz nimmt Richard Oswalds Aufklärungsfilm Anders als die anderen (§ 175) ein, der in diesem Zusammenhang bereits ausführlich diskutiert wurde (vgl. z. B. Steakley 2007). Er wurde 1919 noch vor der Einführung einer reichsweiten Filmzensur hergestellt und im August 1920 wenige Monate nach Inkrafttreten des Reichslichtspielgesetzes verboten. Crăciun fügt der Diskussion dieses Films eine neue Facette hinzu, indem sie herausarbeitet, wie Homoerotik von Oswald „als tiefes Kunsterlebnis inszeniert“ (83) wird und auf diese Weise der „klassische Konflikt zwischen Künstlertum und Bürgertum“ den Rahmen abgibt, „in dem sich der Konflikt zwischen Heterosexualität als bürgerlicher Konvention und Homosexualität als natürlicher Veranlagung abspielt“ (89). Flankiert wird die ausführliche Betrachtung dieses Films von einer deutlich kürzeren zu Ernst Lubitschs Verkleidungs- und Verwechslungslustspiel Ich möchte kein Mann sein (1918). Es spielt suggestiv mit homoerotischen Assoziationen, wird von Crăciun aber abschließend als „reaktionär“ disqualifiziert, da es zur normativen Heterosexualität zurückkehre und damit zeige, „dass die Frauenemanzipation überflüssig und die Revolution nicht nötig“ sei (100). An diesem Film sei lediglich zu lernen, „dass der (bürgerliche) Schein fast immer trügt“ (ebd.). Ob mit dieser Feststellung die Dialektik, die dieser Lektion innewohnt, zur Genüge erfasst ist, lässt sich mit Blick auf gegenläufige Interpretationen des Films (z. B. Schlüpmann 1992) bezweifeln. Von derartigen Sekundärquellen nimmt die Autorin hierbei leider keine Notiz.

Das dritte Kapitel geht von der Annahme aus, dass sich in der „Präsenz der Kinder als Haupt- und Nebengestalten im Stummfilm der Weimarer Republik […] mit kaum vergleichbarer Deutlichkeit die Zukunftserwartungen und -ängste der bürgerlichen Gesellschaft“ artikuliert finden (117). An der filmischen Zeichnung von Kinderfiguren, so die daraus abgeleitete These, kristallisiere sich ein Moment radikaler Selbstkritik des Bürgertums, dessen Selbstverständnis an ihnen brüchig werde und deren Selbstinszenierung als solche entlarvt (ebd.). Die Beispielanalysen dienen der näheren Begründung dieser Behauptung einer „schonungslosen Dekonstruktion“ bürgerlicher Konventionen durch Kinderfiguren als „Träger sozialkritischer Botschaften“ (121). Diese Funktion wird den spielenden Arbeiterkindern in Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927) ebenso zugeschrieben wie dem geretteten Neugeborenen in Der müde Tod (1921), den geopferten Kindern in Die Nibelungen – Kriemhilds Rache (1924) und Faust (1926) wie auch den „Unehelichen“ im gleichnamigen Film Gerhard Lamprechts von 1926 und der verführten Jugendlichen in Pabsts Tagebuch einer Verlorenen (1929). Während es dem Kapitel gelingt, das gesellschaftskritische Potenzial der Kinderfigur plausibel zu machen, leidet die Schlüssigkeit der Argumentation jedoch mehr unter der Heterogenität der Beispiele, als dass sie aus der Breite des Gattungsspektrums an Überzeugungskraft gewinnt. Der unterschiedliche Umfang der jeweiligen Rollen und die zum Teil eklatanten Ungleichheiten in der Bedeutung der Figuren, vor allem aber die fehlende Binnendifferenzierung innerhalb der Kategorie ‘Kindergestalt’, die von Neugeborenen bis zu Jugendlichen im Pubertätsalter gezogen wird, lassen vergleichende Schlussfolgerungen kaum zu und die Analysen unverbunden nebeneinander stehen.

Das Augenmerk des folgenden Kapitels gilt dem Motiv des Verbrechens und der Figur des Verbrechers. Obwohl die Autorin wiederum auf ähnlich viele und unterschiedliche Beispiele zurückgreift, geht sie in ihren typologischen Kategorisierungen weitaus systematischer und in den sozialkritischen Funktionszuschreibungen differenzierter vor. Zunächst identifiziert Crăciun den kurzen Weg vom Bürger zum Verbrecher als fest etabliertes Erzählmuster des Weimarer Stummfilms, bevor sie das Spektrum in spezifische Ausprägungen des Verbrechers als Märtyrer (Von morgens bis mitternachts, 1920), (Schau-)Spieler (Dr. Mabuse, der Spieler, 1921), Clown (Spione, 1928) und Bettler (Der Bettler vom Kölner Dom, 1927) auffächert. Lediglich die Betrachtung von Murnaus Schloß Vogelöd (1921) fällt aus dem konzeptionellen Rahmen: Unter Hinzunahme des Romans von Rudolf Stratz, auf dem der Film basiert, entdeckt sie hinter der Frage nach der wahren Identität des Mörders „das tiefere Geheimnis über die sexuelle Identität der Schlossherren, ihrer Gäste und ihrer Diener“ (260), indem sie allen Beteiligten pauschal homoerotische Neigungen unterstellt.

Mit der Hinwendung zum Doppelgänger-Motiv begibt sich das letzte Kapitel des Buches wieder auf vertrautes Forschungsterrain. Neben Neulektüren von Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/20) und Metropolis (1926), die mit teils abenteuerlichen Spekulationen über deviantes (sadistisches, homosexuelles, inzestuöses) Begehren bei den Protagonisten aufwarten und damit an den Schluss des vorhergehenden Kapitels anschließen, setzt die Analyse von Henrik Galeens Der Student von Prag (1926) einen anderen Akzent. Auf die Hauptfigur des Prager Studenten Balduin, der sein Spiegelbild an den Teufel verkauft, sieht Crăciun zwei Klischees jüdischer Identität projiziert: das Klischee des Juden als gesellschaftlichem Außenseiter und als Verbündetem des Teufels. Leider wird dieser Ansatz allzu schematisch ausgeführt, um überzeugen zu können. Stellenweise führen die Überlegungen zu erschreckend kurzschlüssigen Folgerungen, so in Bezug auf die Schlusswendung des Films, von der es heißt: „Der sterbende Balduin erblickt in der Agonie des Todes sein Spiegelbild in einer Spiegelscherbe wieder. Erst der Selbstmord setzt seiner qualvollen Ich-Spaltung ein Ende. Die gespaltene, deutsch-jüdische Kulturnation war in Der Student von Prag erst durch die Selbstauslöschung des Jüdischen aus der Taufe zu heben. Von dieser utopischen ‚Lösung’ zur Endlösung war der Weg nicht mehr lang“ (285). Die verfänglichen historisch-gesellschaftlichen Dynamiken, die „von Caligari zu Hitler“ geführt haben mögen, lassen sich so – mit oder ohne Kracauer – nicht einmal ansatzweise erfassen; die komplexen Echos deutsch-jüdischer Identitätsspaltungen im Kino der Weimarer Republik wiederum hat Ofer Ashkenazi (2012) weitaus subtiler analysiert.

Am Ende hinterlässt das Buch einen sehr gemischten Eindruck. Die originellen Interpretationsansätze bringen im Einzelnen immer wieder einleuchtende Beobachtungen hervor. Ihr Wert wird jedoch von einer regelmäßig ins Spekulative abgleitenden Argumentation sowie teils unzulässig pauschalierenden, teils ins Umgangssprachliche abgleitenden Formulierungen erheblich eingeschränkt, die weder der Komplexität des Gegenstandes noch den Anforderungen des eigenen Vorhabens gerecht werden. So bietet die Arbeit von Ioana Crăciun zahlreiche Ansatzpunkte zur weiteren Bearbeitung der Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Weimarer Kinos, ohne bereits allzu viele belastbare Antworten zu geben.

Literatur:

  • Ashkenazi, Ofer: Weimar Film and Modern Jewish Identity. New York [Palgrave Macmillan] 2012.
  • Kracauer, Siegfried: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Princeton [Princeton University Press] 1947.
  • Schlüpmann, Heide: „Ich möchte kein Mann sein“. Ernst Lubitsch, Sigmund Freud und die frühe deutsche Komödie. In: KINtop – Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films 1, 1992, S. 75-92.
  • Steakley, James: „Anders als die Andern“. Ein Film und seine Geschichte Hamburg [Männerschwarm-Verlag] 2007.

Links:

Über das BuchIoana Crăciun: Die Dekonstruktion des Bürgerlichen im Stummfilm der Weimarer Republik. Heidelberg [Universitätsverlag Winter] 2015, 337 Seiten, 64,- Euro.Empfohlene ZitierweiseIoana Crăciun: Die Dekonstruktion des Bürgerlichen im Stummfilm der Weimarer Republik. von Wedel, Michael in rezensionen:kommunikation:medien, 15. August 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19336
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