Rafael Mollenhauer: Tomasellos Kooperationsmodell

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Rezensiert von Henrik Dindas

Tomasellos KooperationsmodellEinzelrezension
Mit seiner Arbeit über Tomasellos Kooperationsmodell promovierte Rafael Mollenhauer an der Universität Duisburg-Essen. Seine Dissertation ist nun beim UVK Verlag erschienen. Ziel des Buches ist u. a., die explikative Reichweite der Arbeiten von Michael Tomasello im Kontext kommunikationstheoretischer Fragestellungen zu untersuchen und dabei ein potentielles Irritationspotential von Tomasellos Ansatz darzulegen.

Inhaltlich geht Rafael Mollenhauer dabei sehr sorgfältig und gewissenhaft vor. Den Kern seiner theoretischen Basis bilden zwei eigenständige Komplexe, die den aktuellen Kenntnisstand der Forschung von und zu Tomasello wiedergeben. Mollenhauer stellt dabei die Hypothese auf, dass die Unmengen an Publikationen und Arbeiten Tomasellos zwar im Großen und Ganzen einem zusammenhängenden Forschungsvorhaben gewidmet seien, dennoch aber durchaus heterogene Erklärungsmodelle beinhalten. Damit sei die durch Tomasello dargelegte klassisch psychologische, am Individuum orientierte Ausrichtung der Theorie zur ontogenetischen und phylognetischen Entstehung von humanspezifischer Kommunikation allerdings keine umfassende Kommunikationstheorie, da sie höchstens vermag, die Entstehung von Kommunikationsmitteln darzulegen (vgl. 10).

Das Buch gliedert sich in zwei aufeinander aufbauende Komplexe, die sich an den beiden prominentesten Werken Michael Tomasellos orientieren. Im ersten Teil werden dabei Tomasellos Ausführungen zur Genese der menschlichen Kognition ausgeführt. Im Anschluss daran bietet Mollenhauer eine ausführliche Darstellung des Einflusses Jean Piagets auf Tomasellos Werk und untersucht dabei dessen Orientierung an kognitivistisch geprägten Methodologien und Paradigmen.

Hieran anknüpfend stellt Mollenhauer einen skizzenhaften Vergleich von Tomasellos Arbeiten mit den von ihm stark kritisierten Modultheorien vor, bei dem anschließend in einer rein analytischen Trennung von den kognitionstheoretischen Fundamenten die durch Tomasello geprägten “interaktionistische Erweiterungen“ in den Blick genommen werden. Diese werden am Beispiel der Einflüsse der gemeinhin als interaktionistisch eingestuften Ansätze Vygotskys, Bruners und Meads ausführlich diskutiert. Mollenhauer zeigt in diesem Zusammenhang eindringlich auf, welche Aspekte des Interaktionsprozesses Tomasello vernachlässigt zu thematisieren.

Der zweite Komplex des Buches fokussiert die eher kommunikationstheoretisch ambitionierten Überlegungen Tomasellos. Mollenhauer arbeitet die kognitionstheoretischen Hintergründe von Tomasellos Programmatik heraus und ordnet diese Einflüsse ein. In diesem Zusammenhang rekapituliert der Autor Tomasellos vorangehende Forschungshistorie mit besonderem Fokus auf die für Tomasello damals entscheidende Annahme einer humanspezifischen Fähigkeit, andere als intentionale Akteure zu verstehen.

Mollenhauer schlägt eine Brücke zu Tomasellos neuerdings verstärkt propagierten Hypothesen zur Genese humanspezifischer Kommunikation. Die vorgenommene Zuordnung soll dabei darlegen, in welchem Maße Tomasello auch im Kontext seines Kooperationsmodells und der damit verbundenen Annahme einer Hyperkooperativität des Menschen auf seinen theoretisch-methodologischen Fundamenten verweilt. Eine ausführliche Darstellung von Tomasellos Werk zu den Wurzeln humanspezifischer Interaktionsformen veranschaulicht nicht nur Tomasellos neue Schwerpunkte, sondern dass im Zuge seiner einem stetigen Wandel unterworfenen Theoriebildung auch ein besonders deutlicher Bruch stattgefunden hat. Dieser ist “entscheidend mit dem Konzept geteilter Intentionalität verknüpft“ (14). Damit zeichnet Mollenhauer den Wandel Tomasellos als einen Weg zur geteilten Intentionalität nach und identifiziert ihn als Produkt einer weiterhin bestehenden kognitiv-mentalistischen Grundorientierung. Das Kapitel schließt mit einer Bestandsaufnahme und Einschätzung aktueller theoretischer Einflüsse, die ihrerseits – wie es Mollenhauer ebenfalls in einer Gegenüberstellung Wittgensteins und Searles zeigt – überaus heterogener Art sind.

Es folgt eine inhaltlich-argumentative Auseinandersetzung mit Tomasellos Werk aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. Diese richtet Mollenhauer an der von Karl Bühler in seinem Werk Die Krise der Psychologie bereitgestellten Axiomatik aus. Mollenhauer nimmt eine Einordnung der tatsächlichen Qualität von Steuerungsprozessen vor, deren Gelingen er Tomasello aufgrund seiner weitgehenden Beschränkung auf mentale Prozesse nicht zuschreiben kann.

Der zweite inhaltliche Schwerpunkt des Buches thematisiert den Wendepunkt von den auch bei Tieren verbreiteten Kontaktformen hin zu spezifisch menschlichen Formen der Interaktion. Mollenhauer arbeitet die besondere Zirkularität eines schwachen Erklärungsmodells Tomasellos heraus, in welchem er humanspezifischen Kontakten ihr eigenes kognitives Fundament zuspricht, welches er auch für die Qualität der Kontakte verantwortlich macht. Im Anschluss folgt eine Untersuchung der tatsächlichen Qualität des für Tomasello bedeutenden Zeigens. In diesem Vorgehen vollzieht Mollenhauer eine Herleitung des synsemantischen Zeichenverkehrs aus dem Grundfall menschlicher Kontaktformen mitsamt einer semiotischen Aufschlüsselung der Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Kontaktmittelformen. Abschließend legt er eine Untersuchung dar, die Tomasellos Arbeiten über die bloße Zusammenführung der zuvor gewonnenen Erkenntnisse hinaus noch einmal hinsichtlich der seinerseits aufgestellten Hypothesen einstuft und dabei vor allem fokussiert, welche Ergebnisse des Forschungsprogramms für die kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung fruchtbar gemacht werden können.

Unter Hinzunahme des Eindrucksmodells Gerold Ungeheuers und weiterer kommunikationstheoretischer Arbeiten von Kathage, Loenhoff und Schmitz verdeutlicht Mollenhauer dabei, welche Aspekte des kommunikativen Prozessgeschehens ein derartiges Ausdrucksmodell der Kommunikation bzw. Interaktion nicht erfasst.

Die im Buch behandelte Frage nach den Ursprüngen von Sprache und humanspezifischer Kognition werden vom Autoren kongenial aufgegriffen, indem Mollenhauer die Überlegungen Tomasellos, hier vor allem die Thesen zur Genese spezifisch menschlicher Kommunikation, anschaulich herausarbeitet und dabei erörtert, welche Inhalte mögliche Anknüpfungspunkte für eine weiterführende kommunikationswissenschaftliche Forschung liefern können: “Um die Erforschung der kommunikativen Entwicklung des Kindes fortzusetzen, böte sich nämlich eine gründliche Beschäftigung mit Prozessen gemeinsamer Aufmerksamkeit an, da sie zugleich den Umschlagpunkt von signalartigen zu symbolhaften Interaktionsprozessen markiert“ (246).

Rafael Mollenhauer legt eine fundierte und umfassende kommunikationswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Tomasellos vor. Insgesamt liegt hier eine sehr anregende Publikation vor, welche viele kommunikationswissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser ansprechen dürfte. Mollenhauer demonstriert dabei deutlich die zentralen Schwächen Tomasellos im Kontext sozial- und kommunikationstheoretischer Fragestellungen. Die durchgeführten Analysen der kognitionstheoretischen Hintergründe und des Theoriewandels untermauern diese Annahme, da sie sehr gut strukturiert und verständlich geschrieben sind. Mollenhauer regt an, nicht nur der Frage nachzugehen, welchen Stellenwert die Arbeiten von Michael Tomasello im Rahmen verschiedenener Fachdisziplinen damals hatten, sondern darüber hinaus noch heute haben können – und sollten.

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Über das BuchRafael Mollenhauer: Tomasellos Kooperationsmodell. Michael Tomasellos Forschung im Kontext kommunikationstheoretischer Fragestellungen. Konstanz [UVK] 2015, 260 Seiten, 32,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseRafael Mollenhauer: Tomasellos Kooperationsmodell. von Dindas, Henrik in rezensionen:kommunikation:medien, 1. April 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19077
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