Achim Eschbach (Hrsg.): Soziosemiotik

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Rezensiert von Tilman Allert

SoziosemiotikEinzelrezension
Fünfzig Jahre nach Erscheinen wird im April 2016 in Wien einer der einflussreichsten Texte der Sozialwissenschaft, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Peter Berger und Thomas Luckmann, auf einer internationalen Tagung zum Sozialkonstruktivismus gewürdigt. Die komplexe Wirkungsgeschichte dieses Schlüsselwerks veranlasst immer wieder neue Anläufe, disziplinäre Verzweigungen, Anschlusspositionen und erst recht theoretische Vorläufer in den Blick zu nehmen. Stimmig zu der Gemengelage von Bezugnahmen und begrüßenswerter Koinzidenz ist ein wunderschön übersichtlicher Grundlagentext zur Semiotik erschienen, herausgegeben von einem der bekanntesten und eifrigsten Vertreter der Disziplin, Prof. Dr. Achim Eschbach, Universität Duisburg-Essen.

Ein großes Verdienst dieses Bandes ist zweifellos, eine kluge Auswahl von Autoren zusammengestellt zu haben, durch die so wichtige Vertreter wie Karl Bühler oder Kurt Singer, die hier wie selbstverständlich neben der Prominenz von Foucault, Baudrillard, Eco und Searle vertreten sind, dem Vergessen entzogen werden. Der Herausgeber versteht es, die Logik der Sammlung von Grundlagentexten mit einem instruktiven eigenen Beitrag zu durchbrechen, der im Exposé der konzeptuellen Schwergewichte einen erfrischenden und luziden Einblick in die Arbeitsweise der semiotischen Perspektive gestattet und darin die Leistungsfähigkeit für die empirische Gegenstandsanalyse unter Beweis stellt.

Verdienstvoll ist der Rückblick auf die Phänomenologie. Alfred Schütz eröffnet den Reigen, die Linguistik verdient als hilfreiche Schwester der Semiotik hervorgehoben zu werden. “Die Sprache ist das Haus des Seins”, diese geradezu mythisch gewordene Diktum Heideggers scheint implizit die perspektivische Aufmerksamkeit des Herausgebers zu leiten. Dass der jenseits des Rheins derzeit hymnisch gefeierte Roland Barthes fehlt, macht deutlich, wie sensibel und kundig Eschbach die diversen Ansätze im Hinblick auf ihre Praktikabilität für die empirische Gegenstandsanalyse durchpflügt hat. Barthes bleibt in einer letztlich doch idiosynkratischen Perspektive und esoterischen Terminologie ein Phänomen der Intellektuellenkultur Frankreichs, literaturwürdig ist er im Grunde nicht.

So stimmig diese Auslassung erscheint, so überrascht ist der Leser, die zeichentheoretisch grundlegenden Arbeiten von Charles S. Peirce nicht vertreten zu sehen. Das ist bedauerlich, zumal Eschbachs oben erwähnter Beitrag – nicht ohne Grund – mit etlichen Bezügen auf Peirce seine Argumentation entfaltet. Im Spektrum des Ganzen ein vernachlässigenswerter Einwand. Die Aufsätze des Bandes, die Autoren wie Pierre Bourdieu, G. H. Mead, Karl Mannheim, Claude Lévi-Strauss und Georg Simmel umschließen, dokumentieren von der disziplinären Orientierung her, wie eng die Semiotik in Nachbarschaft mit der Soziologie entstanden ist oder sich gar begreift – eine Nachbarschaft, die die begründete Vermutung nahelegt, dass – wie so oft – die nach außen dramatisierten konzeptuellen und methodologischen Differenzen in dem Moment schmelzen, in dem man sich an die empirische Arbeit macht. Systematisch geht es ja auch in der Semiotik um Phänomene der sinnstrukturierten Welt (Ulrich Oevermann), deren soziale Voraussetzungen und Folgen und deren Entstehungsgeschichte zu bestimmen sind.

Die Bescheidenheit, in der der begrüßenswert schmale und deshalb leserfreundliche Band daherkommt und deshalb einen vorzüglichen Überblick liefert statt mit schwerfälligen Paraden zu imponieren, ist sympathisch, jedoch nicht nachvollziehbar: so wünscht man dem Band nicht nur breite Rezeption im Fach Semiotik, vielmehr wünscht man ihm das Schicksal eines Kassibers, der in den Regalen der Soziologie landen möge. Ein gelungener Wurf.

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Über das BuchAchim Eschbach (Hrsg.): Soziosemiotik. Grundlagentexte. Köln [Herbert von Halem] 2015, 378 Seiten, 24,- Euro.Empfohlene ZitierweiseAchim Eschbach (Hrsg.): Soziosemiotik. von Allert, Tilman in rezensionen:kommunikation:medien, 16. April 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19066
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