Vanessa Aab: Kinematographische Zeitmontagen

Einzelrezension
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Rezensiert von Joachim Paech

Kinematographische ZeitmontagenEinzelrezension
Das Buch (die Dissertation) von Vanessa Aab will nicht mehr und nicht weniger als die gesamte bisherige Filmgeschichtsschreibung auf neue Grundlagen stellen. Es geht ihr um eine “Entwicklungsgeschichte des Kinos” (Untertitel), die allerdings fast nichts mit dem Kino als Raum, Ort oder Institution zu tun hat, sondern quid pro quo Film meint. An den bisherigen Chroniken des Kinos (sie meint Film und nennt Sadoul, Toeplitz, Fraenkel, Zglinicki, Gregor/Patalas und die New Film History) moniert sie vor allem, dass sie dem Film von Anfang an die Fotografie zugrunde gelegt hätten, wodurch sowohl eine Vorgeschichte der Kinematographie nicht in den Blick gekommen als auch ihre digitale Fortsetzung nicht vorstellbar geworden sei. Dass sie keinen Unterschied macht zwischen stroboskopischen und kinematographischen Darstellungen von Bewegung fällt nicht weiter ins Gewicht, weil am Ende weder die mechanischen Vorläufer noch die digitalen Nachläufer der Kinematographie ernsthaft diskutiert werden, und es am Ende doch bei der Epoche des fotografischen Films bleibt.

Ihre Neufassung der Filmgeschichte, die sie auf keinen Fall technikgeschichtlich verstanden wissen will, konzipiert sie als eine Evolution der Filmästhetik nach Maßgabe der Grundeigenschaft des Films überhaupt, Gestaltung von Zeit zu sein. Zeit, wie auch das Licht, das ebenfalls eine grundlegende Rolle spielt, sind immer noch wissenschaftliche Rätsel (für sie), denen man sich am besten historisch nähert: Schließlich stellt die Uhr, die immerhin mechanisch mit dem Kinematographen verwandt ist, die Zeit dar, und analog verhält es sich mit dem Film, der in der Montage seine eigene Verfügung über die Zeit organisiert und kontrolliert. Dass und wie beide über die Mechanik interagieren bleibt unerwähnt. Es gibt eine (äußere, mechanische) Kino-Zeit kinematographischer Darstellung, die bis in die ‘Montage‘ der Reihenfotografie des Filmstreifens reicht, und eine innere Zeit-Gestaltung des im Film Dargestellten durch unterschiedliche Montageformen (Zeitmontagen), deren erste Prinzipien à la Deleuze das Bewegungsbild und das Zeitbild sind. Innere und äußere Zeitverhältnisse (die äußeren verhelfen den inneren zur Darstellung) verbinden sich in der Kinoprojektion mit dem Rezipienten, der den Film als ‘Effekt‘ (Bewegungsillusion) und Gestaltung von Zeit wahrnimmt. Es gilt, auch ein wenig kritisch gegenüber Deleuze, der die äußeren Zeitverhältnisse (deren kinematographische Konstitution also) vernachlässigt habe, Bewegung als Effekt und immanente Form vorzustellen. Unter Vorbehalt und nur weil es angeblich seit den 1970er Jahren so Konsens sei, soll Bewegung eine wahrnehmungsbedingte Illusion und Wirkung der ‘Trägheit der menschlichen Netzhaut‘  (ein Nachbild-Effekt) sein.

Nun muss man die wissenschaftliche Literatur seit 1912 (Wertheimer) und folgende nicht kennen, um festzustellen, dass es sich dabei keineswegs um eine im Rezipienten ausgelöste (induzierte) Bewegung (175) handelt: Man stelle einfach ein unverdächtiges technisches Auge (eine Videokamera) vor eine Leinwandprojektion im Kino und lasse sich zeigen, was dieses ‘Auge‘ ohne Trägheit und Nachbild gesehen hat: Bewegung. Ob Bewegung im Kino Wiedergabe oder Darstellung (also Konstruktion) einer äußeren bewegten Wirklichkeit ist, bleibt unentschieden, mal so, mal so.

Ein wiederholter Blick auf die Kunstgeschichte bedeutet der Autorin, dass auch in der Malerei immer schon Zeit (und im Kubismus auch Bewegung) als vierte Dimension im Bild enthalten sei, immerhin sei die Malerei in der Zeit entstanden (ein Tisch oder Stuhl übrigens auch). Schade, dass sich die Autorin hier fast nur auf den Sammelband von Hannelore Paflik  stützt und u.v.a. den einschlägigen Band von Michel Baudson: Zeit. Die vierte Dimension in der Kunst unberücksichtigt lässt (oder schlicht nicht kennt). Im Projektionslicht des Kinos kommen alle Elemente der kinematographischen Zeitmontagen zusammen: Das Licht, im Akt der Fotografie vom Bild getrennt, tritt in der Projektion als gleichförmiges Maß der Zeit wieder zu den Bildern hinzu, es ist Medium und Form kinematographischer Gestaltung im Bewegungsbild der Leinwand. Zeitmontagen haben es mit dramaturgischen Zeitstrukturen zu tun, also Formen des Erzählens. Und weil das Licht das Medium der Zeitgestaltung in der Projektion ist, macht es das Kino zum privilegierten Ort von Zeitreisen ‘in Lichtgeschwindigkeit‘ (die erforderlichen Hilfestellungen zu dieser gewagten These in der einschlägigen Literatur bei Paul Watzlawick, Michail Jampolski, Karl Clausberg, u.v.a. sucht sie nicht). Am Ende führt die Autorin auch einige Filme (es sind immer dieselben Beispielfilme) für Zeitmontagen an, zum Beispiel Alain ResnaisLetztes Jahr in Marienbad. Dass der digitale Film (ist das überhaupt noch ‘Film’? vgl. Rodowick) alle wesentlichen Paradigmen der Kinematographie grundlegend verändert, ahnt die Autorin, aber das ist nicht mehr ihr Thema.

Das Buch ist voller nicht belegter Ideen und Mystifikationen. Da gibt es “von Dynamik durchwobene Malerei” (136) oder die Behauptung, dass der Zuschauer im Kino des Zeit-Bildes nicht mehr der Chronologie einer Narration folgt, sondern “im einzelnen Bild [?!] einer Gegenwart gewahr [wird], in der andere Zeitmodi verdichtet und miteinander verschmolzen sind.” (192) Film wird an keiner Stelle nach Gattungen unterschieden, obwohl ein dokumentarischer Film seine ‘äußere Zeit’ ganz anders gestaltet als ein fiktionaler Film. Eine Kritik an Siegfried Kracauer trifft daher auch nur dessen Ontologie der Fotografie, nicht aber die damit verbundene ‘Errettung der äußeren Wirklichkeit‘ im dokumentarisch verstandenen Film. Wo es doch um Zeitmontagen geht, interessiert sich die Autorin überhaupt nicht für kinematographische Zeitformen wie Zeitlupe, Zeitraffer oder freeze frame als Bewegungsbild ohne Bewegung. Es muss kaum noch erwähnt werden, dass der Ton im Tonfilm als wesentliches Element der Zeitgestaltung in diesem Buch nicht vorkommt.

Resumée: Es handelt sich um ein an vielen Stellen anregendes, kreatives Buch. Es ist sachlich und historisch so breit angelegt, dass ein tieferes Eindringen in eine Vielzahl von Problematiken und deren wissenschaftliche Literatur unterblieben ist. Wettgemacht wird das durch einen  selbstbewussten Vortrag, der sich um Belege und Widersprüche nicht allzuviel schert. Begriffe wie Thermodynamik (210) oder Quantensprünge (213) werden eingestreut, mag sich etwas darunter vorstellen, wer will. Im bereits vollzogenen Übergang zum digitalen Film wäre eine veränderte Sicht auf die Geschichte der Kinematographie durchaus von Nutzen, wenn sie den medialen Unterschied und seine Folgen für den Film verständlich machen kann. Das Buch von Vanessa Aab lässt es bei Mystifikationen bewenden, die für niemanden hilfreich sind.

Literatur:

  • Michel Baudson: Zeit. Die vierte Dimension in der Kunst. Weinheim [Wiley-VCH] 1985
  • D. N. Rodowick: The Virtual Life of Film. Cambridge [Harvard University Press] 2007

Links:

Über das BuchVanessa Aab: Kinematographische Zeitmontagen. Zur Entwicklungsgeschichte des Kinos. Reihe: Marburger Schriften zur Medienforschung, Band 47. Marburg [Schüren-Verlag] 2014 (=Hildesheim, Uni-Diss. 2013), 240 Seiten, 24,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseVanessa Aab: Kinematographische Zeitmontagen. von Paech, Joachim in rezensionen:kommunikation:medien, 25. März 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/17462
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